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Schwangerschaft und Geburt bringen umfangreiche körperliche, psychologische, soziale und hormonelle Veränderungen mit sich, die das sexuelle Wohlbefinden von Frauen und die Qualität ihres Sexuallebens beeinträchtigen können. Durch Ohr-Akupressur können diese Auswirkungen aber positiv beeinflusst werden, wie eine Studie von Sanaz Barghamadi et al. (20231Zainab Alimoardi, Sanaz Barghamadi, Terry Oleson, Mohammad Hossein Ayati, Mark D. Griffiths, Nasim Bahrami: The effect of ear acupressure on sexual functioning among lactating women: A randomized sham controlled trial. European Journal of Integrative Medicine, Volume 63, 2023. https://doi.org/10.1016/j.eujim.2023.102285.) zeigt.
Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Stressfaktoren, die durch Kinderbetreuung und Veränderungen des Körperbildes bedingt sind, können zusammen mit den hormonellen Veränderungen das Interesse am Sexualleben in dieser Zeit verringern.2Die Autor*innen verweisen auf Abdelhakm EM, Said AR, Elsayed DMS: Effect of PLISSIT model sexual counseling program on sexual quality of life for postpartum women. Am J Nurs Sci. 2018;7(2):63. Prolaktin, das wesentlich für die Milchproduktion verantwortlich ist, senkt zugleich aber auch den Spiegel von Androgen und Östrogen, wodurch es zu vaginaler Trockenheit, Atrophie des Vaginalepithels3Vaginale Atrophie bezeichnet die Rückbildung der Scheidenwand und der Epithelfalten bis zu einer dünnen und glatten Oberfläche. und Dyspareunie4Dyspareunie ist eine sexuelle Funktionsstörung, die sich meist durch brennende oder krampfartige Schmerzen im Genitalbereich beim Geschlechtsverkehr äußert und meist zum Ausbleiben eines Orgasmus führt. kommt. Etwa zwei Drittel der Frauen, so berichten Studien, haben während der Stillzeit ein sexuelles Problem, wie verminderte Libido, mangelndes sexuelles Vergnügen, Dyspareunie oder vaginale Trockenheit.5Die Autor*innen verweisen auf Acele EÖ, Karaçam Z. Sexual problems in women during the first postpartum year and related conditions. J Clin Nurs. 2012;21(7–8):929–37 und Mohammed YF, Hassan HM, Al-Dinary AM, Rashed NS. Sexual function after child birth according to the mode of delivery. AAMJ. 2014;12(4):264–84. In der Regel bessern sich diese Beschwerden innerhalb eines Jahres nach der Entbindung. Die Prävalenz6Als Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. sexueller Funktionsstörungen steigt von 19 bis 63 % in der präpartalen Periode auf 34 bis 91 % in der postpartalen Periode.7Die Autor*innen verweisen auf Williams A, Herron-Marx S, Carolyn H. The prevalence of enduring postnatal perineal morbidity and its relationship to perineal trauma. Midwifery. 2007;23(4):392–403. Die Ergebnisse verschiedener iranischer Studien bestätigen die hohe Prävalenz (31,5 bis 85,4 %) sexueller Funktionsstörungen während der Stillzeit. Die Autor*innen verweisen dazu auf Ahmad Shirvani M, Bagheri NM: Sexual dysfunction and related factors among breast feeding women. Iran J Obstet Gynecol Infertility. 2011;14(5):38–44; und Tork Zahrani S, Banaei M, Ozgoli G, Azad M: Investigation of the postpartum female sexual dysfunction in breastfeeding women referring to healthcare centers of Bandar Abbas. Iran J Obstet Gynecol Infertility. 2016;19(35):1–12.
Innerhalb von 8 bis 12 Wochen nach der Geburt, so führen die Autor*innen weiter aus, versuchen die meisten Frauen zu ihrem Sexualleben zurückzukehren. Es kann jedoch bis zu einem Jahr dauern, bis die sexuellen Beziehungen wieder die gleiche Qualität wie vor der Schwangerschaft erreichen8Die Autor*innen verweisen auf Yörük F, Karaçam Z: The effectiveness of the PLISSIT model in solving postpartum sexual problems experienced by women. Athens J Health. 2016;3(3):235–7. wobei Psychotherapie und Pharmakotherapie als die beiden wichtigsten Methoden zur Behandlung der weiblichen sexuellen Dysfunktion (FSD) gelten. Allerdings empfiehlt die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) weder Lebensmittel noch Medikamente zur Behandlung von FSD9Die Autor*innen verweisen auf Belkin ZR, Krapf JM, Goldstein AT: Drugs in early clinical development for the treatment of female sexual dysfunction. Expert Opin Investig Drugs. 2015;24(2):159–67., weshalb nicht-pharmakologische Therapien, wie beispielsweise die Ohr-Akupressur10Das Außenohr ist eines der verschiedenen somatotopen Mikrosysteme, die bei der Akupressur verwendet werden können, erläutern die Autor*innen. Die Ohrakupressur (Aurikulotherapie, Aurikularakupressur) wurde erstmals in der alten chinesischen Medizin (300 bis 500 Jahre v. Chr.) vorgestellt, Paul Nogier war der erste westliche Arzt, der die Ohr-Akupressur auf wissenschaftliche Weise darlegte. Nach dieser Theorie ist jeder Teil des Körpers mit einem bestimmten Teil des Ohrs verbunden, der den physiologischen oder pathologischen Zustand des Körpers widerspiegelt. In Bezug auf die Wirksamkeit von Ohr-Akupressur verweisen die Autor*innen auf Studien, die deren Wirksamkeit bei Schlaflosigkeit, Schlaflosigkeit, Menstruationsbeschwerden und Dysmenorrhoe, prämenstruellen Schmerzen, chemotherapiebedingter Übelkeit und Erbrechen, Raucherentwöhnung, Fettleibigkeit und Kurzatmigkeit belegen und beispielsweise auf Yeh M-L, Chang Y-C, Huang Y-Y, Lee T-Y: A randomized controlled trial of auricular acupressure in heart rate variability and quality of life for hypertension. Complement Ther Med. 2015;23(2):200–9 sowie auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die die Ohrakupunktur aufgrund ihrer Wirksamkeit bei der Behandlung von Gesundheitsstörungen als vielversprechenden therapeutischen Ansatz anerkannt hat, vgl. Tan J-Y, Molassiotis A, Wang T, Suen LK: Current evidence on auricular therapy for chemotherapy-induced nausea and vomiting in cancer patients: a systematic review of randomized controlled trials. Evid Based Complement Alternat Med. 2014;2014:18., eine potenziell gute und nicht-invasive (sichere) Alternative zur pharmakologischen Therapie darstellen, die für Mütter, die sich in der Zeit nach der Geburt um ihr Kind kümmern müssen, leicht anwendbar ist.
Studiendesign
Das Ziel der Studie ist die Erforschung der Wirkung von Ohr-Akupressur auf die Sexualfunktion von stillenden Frauen. Die Durchführung erfolgte in Form einer randomisierten und kontrollierten klinischen Studie, in der es neben einer Verum-Gruppe (Anwendung von Ohr-Akupressur) auch eine Sham-Behandlungsgruppe gab.
In diese Studie aufgenommen wurden stillende Frauen zwischen 6 Monaten und 1 Jahr nach der Entbindung (über die Gesundheitszentren in Qazvin, einer Stadt im Iran).
Insgesamt nahmen 76 stillende Frauen an der Studie teil, wobei es signifikante Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe gab (Ausgangswerte des FSFI und der SQoL-Mittelwerte, Depressionsmittelwert, das sexuelle Verlangen des Ehepartners, Bildungsstand, die verwendete Verhütungsmethode und die Vorgeschichte von Dyspareunie während der Schwangerschaft), die als Kovarianz in der Auswertung berücksichtigt wurden.
Die Ausfallsquote betrug 15,8 Prozent, wobei sechs Frauen aus der Interventionsgruppe ausschieden: zwei aufgrund einer leichten Ohrinfektion an der Stelle aus, an der das Klebeband mit einem Samen angebracht wurde; eine, weil sie Schmerzen verspürte, wenn sie auf die Stelle des Klebebands mit einem Samen drückte; drei, weil ihr Ehepartner nicht wollte, dass sie Klebebänder an ihren Ohren anbrachten.
Ohr-Akupressur-Gruppe: Nach der Reinigung der Ohrmuschel mit 75 %igem Alkohol wurden Vaccaria-Samen12Samen des im asiatischen Raum weit verbreiteten Kuhkrauts (Vaccaria). Die Samenkügelchen haben einen Durchmesser von ca. 1 mm. mit nicht-latexbasierten Klebstoffen auf den Ohrakupressurpunkten für Genitalien, Becken, Schulter und Hypophysenhinterwand plaziert (siehe Abbildung ).
Es wurden 10 Sitzungen im Abstand von jeweils vier Tagen durchgeführt. Während dieser Sitzungen wurden die Samen auf die vorgesehenen Ohr-Akupressurpunkte geklebt und die Frauen angewiesen, die Samen drei Tage lang auf den Ohren zu belassen, wobei jeder Punkt dreimal täglich für 20 Sekunden gedrückt werden sollte. Der Druck sollte mit mäßiger Stimulation durch gleichmäßiges und leichtes Drücken erfolgen, bis ein leichtes Kribbeln und Unbehagen zu spüren ist. Nach drei Tagen wurden die Frauen gebeten, die Samen zu entfernen und sich einen Tag lang auszuruhen. Die Frauen wurden täglich per SMS und telefonisch an die nächste Interventionssitzung erinnert. Sollte eine Teilnehmerin aus irgendeinem Grund Probleme bei der Anwendung der Methode haben (Verrutschen der Samen, Unbehagen usw.), konnte sie den vorherigen Samen entfernen und den Forscher bitten, neue Samen anzubringen.
Sham-Kontrollgruppe: Die Sitzungen der Kontrollgruppe waren mit denen der Interventionsgruppe identisch, allerdings mit dem Unterschied, dass keine Vaccaria-Samen, nur die Klebebänder auf den Ohr-Akupressurpunkten angebracht wurden.
Es wurden in der Studie vier Maßnahmen zur Datenerhebung durchgeführt.
Die Teilnehmer*innen wurden nach dem Zufallsprinzip der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugewiesen. Die Teilnehmerinnen, die Prüfer*innen der Ergebnisse und die statistischen Auswerter*innen waren blind dafür, welcher Gruppe eine Teilnehmerin zugeordnet wurde.
Die Fragebögen wurden von den Teilnehmerinnen vor der Intervention ausgefüllt. Die Bewertung der sexuellen Funktion wurde sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe mit Hilfe des FSFI-Fragebogens unmittelbar, sowie ein und zwei Monate nach der Intervention durchgeführt.
Das primäre Ziel der Studie war die Erfassung etwaiger Veränderungen der Qualität des Sexuallebens der Frauen durch die Ohr-Akupressur, die mit dem Fragebogen zur sexuellen Lebensqualität bewertet wurde.
Generell zeigte die Untersuchung signifikant positive Ergebnisse in allen untersuchten Bereichen durch die Anwendung der Ohr-Akupressur.
Die vorliegende Studie zeigt, dass Ohr-Akupressur eine positive, auch klinisch signifikante Wirkung auf die sexuelle Funktionsfähigkeit von Frauen unmittelbar nach den Behandlungen hat, ebenso einen Monat und zwei Monate danach. Als mögliche Erklärung für diese Wirkung der Ohr-Akupressur vermuten die Autor*innen eine Beeinflussung endokriner Funktionen und physiologischer Mechanismen im Kontext sexueller Funktionsfähigkeit (und verweisen auf ähnliche, vergleichbare Studien im Bereich der Akupunktur19Die Autor*innen verweisen dabei auf Oakley SH, Walther-Liu J, Crisp C, Pauls R: Acupuncture in premenopausal women with hypoactive sexual desire disorder: a prospective cohort pilot study. Sexual Medicine. 2016;4(3):e176-e81; Schlaeger JM, Xu N, Mejta CL, Park CG, Wilkie DJ: Acupuncture for the treatment of vulvodynia: a randomized wait‐list controlled pilot study. Journal of Sexual Medicine. 2015;12(4):1019-27; Curran S, Brotto LA, Fisher H, Knudson G, Cohen T: The ACTIV study: acupuncture treatment in provoked vestibulodynia. Journal of Sexual Medicine. 2010;7(2):981-95. 52; und Khamba B, Aucoin M, Lytle M, Vermani M, Maldonado A, Iorio C, et al.: Efficacy of acupuncture treatment of sexual dysfunction secondary to antidepressants. Journal of Alternative and Complementary Medicine. 2013;19(11):862-9., da sowohl Akupunktur als auch Akupressur denselben Prinzipien der traditionellen chinesischen Medizin folgen).
Die Studie belegt zudem, dass die angewandte Ohr-Akupressur nicht nur die sexuelle Funktionsfähigkeit signifikant erhöht, sondern auch die sexuelle Lebensqualität - und damit die Lebensqualität von Menschen ganz generell, was in Übereinstimmung mit der Erkenntnis steht, dass die sexuelle Funktionsfähigkeit erhebliche positive Wirkungen auf die Lebensqualität von Menschen hat.20Die Autor*innen verweisen auf Nazarpour S, Simbar M, Ramezani Tehrani F, Alavi Majd H: Relationship between sexual function and quality of life in post-menopausal women. Journal of Mazandaran University of Medical Sciences. 2016;26(143):90-8.
Mögliche Einschränkungen der Studie sind:
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